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Prof. Dr. Leif Erik Wollenweber

18. August 2017

Kung fu Coaching – Leif Erik Wollenweber

China ist die älteste Hochkultur der Welt. Anders als das Abendland trennt das Chinesische nicht zwischen Körper und Geist, Staat, Unternehmen und Individuum, sondern betrachtet alles als Teil eines großen Ganzen. Mit dieser Weltsicht ist diese Kultur der unsrigen zumindest ebenbürtig. Es lohnt deshalb, genauer hinzuschauen.

Das Kung fu ist als fernöstliche Quelle für Coaching und Training besonders spannend, da es das Bestreben ausdrückt, Denken und Handeln in Einheit zu vervollkommnen. Es verbindet körperliche Kräftigung mit der Schulung geistiger Klarheit und Kontrolle.

Die asiatische, und vor allem hier die chinesische Kampfkunst ist keine Ansammlung verschiedener Angriffs- und Verteidigungstechniken, sondern stellt ein System mit fundierten – auf andere Lebensbereiche übertragbaren – Prinzipien dar. Sinnvoll ist dies vor allem für Situationen, in denen Individuen oder Unternehmen im Wettbewerb stehen. Unter den zahlreichen Kung fu-Stilen besonders geeignet und effektiv ist das südchinesische Wing Chun mit seinen vier Kraft- und vier Kampfprinzipien.

Das Besondere am Coaching auf Grundlage einer alten Kampfkunst: ihr Wissen ist – im Wortsinn – leicht zu begreifen. Viele Übungen zeigen selbst wenig Sportlichen, wie überraschend leicht und schnell vermeintlich Stärkere bezwungen werden können. Wer es erst einmal selbst erspürt hat, wie intuitiv und einfach die Wing-Chun-Prinzipien ihr Ziel erreichen, der wird überzeugt sein, dass sie auch in der Unternehmenswelt ihre Wirkung nicht verfehlen. Zuvor müssen sie allerdings verstanden und beherrscht werden.

So einfach die folgenden Kraftprinzipien des Wing Chun-Kung fu also lauten, ohne geistige Offenheit, Konzentration und Mühe umzusetzen sind sie nicht:

Die Kraftprinzipien:
1. Befreie dich von deiner eigenen Kraft.
2. Befreie dich von der Kraft deines Gegners.
3. Nutze die Kraft des Gegners.
4. Füge deine eigene Kraft hinzu.

Mit Blick auf den begrenzten Rahmen betrachten wir nachfolgend nur die Kraftsätze des Wing Chun. Sie mögen bekannt klingen, aber es kommt nicht auf die Beherrschung eines einzelnen Prinzips, sondern auf deren Reihenfolge und Zusammenspiel an. Schauen wir genauer hin.

Befreie Dich von deiner eigenen Kraft. Dieser erste Satz ist der vielleicht überraschendste, ist das übliche Credo doch, man solle möglichst schnell groß und stark werden. Dabei übersehen wir die gravierenden Nachteile von Größe, denn mit ihr verliert man Schnelligkeit, Sensibilität und Beweglichkeit.
Außerdem, wer aufgrund seiner Kraft die Fähigkeit hat, sich mit Macht gegen andere durchzusetzen, ist auch geneigt, dies immer öfter zu tun. So wie jener, der einen Hammer hat, überall nur noch Nägel sieht. Mittel wie Klugheit, Diplomatie, Dialog, Überzeugung, ja vielleicht sogar Verletzlichkeit oder Zurückweichen, die besser – d.h. schneller, effizienter, schonender – zum Erfolg führen könnten, verkümmern.

Das Schlimmste mag passieren, wenn ein solcher Machtmensch auf seinesgleichen trifft. Denn beide können nur noch vorwärts und wissen nicht zurück. Wer dagegen frei ist von seiner Kraft, kann wählen, ob, wann, wo und wie er diese einsetzt. Den Schwächeren ist er ohnehin überlegen, muss ihnen seine Stärke aber nicht zeigen. Und selbst gegen die
Stärksten vermag er zu gewinnen, wenn sie ihre Kraft weniger geschickt einzusetzen wissen als er.

Befreie dich von der Kraft deines Gegners. Dieses Prinzip wirkt in zwei Richtungen. Erscheint uns der Gegner übermächtig, sind wir versucht, den Kampf aufzugeben, bevor er begonnen hat. Wohl auch um uns diese Angst zu nehmen, erzählt uns die Bibel die Geschichte von David und Goliath. Widerständler von Gandhi über Che Guevara, Solidarnosc und die serbische Otpor bis hin zum arabischen Frühling haben bewiesen, dass Einzelne oder kleinste Gruppen ganze Staaten zu Fall bringen können. Daraus folgt, dass wir jeden Gegner ernst nehmen müssen, mag er noch so klein und unscheinbar wirken. Wer dies missachtet, dem geht es wie IBM mit dem PC, Kodak mit Digitalphotos oder Nokia mit dem iPhone.

Egal wie stark der Gegner ist und was er tut, wir müssen eine Antwort haben und in der Lage sein, den Verlauf der Dinge, das Gesetz des Handelns in der Hand zu behalten. Das gelingt uns, indem wir jeden potentiellen Gegner ernst nehmen und ihn so genau wie möglich beobachten und analysieren. Um es mit Michael Corleone aus „Der Pate“ zu sagen: „Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher“.

Nutze die Kraft des Gegners. Jedes Ding hat zwei Seiten. Hier geht es darum zu erlernen, wie wir die Stärken des Gegenübers nicht nur neutralisieren, sondern gegen ihn verwenden können. Ist er groß und träge, agieren wir schnell und flexibel, ist es umgekehrt, verlagern wir den Fokus auf Größenvorteile und engen seine Spielräume so ein, dass Beweglichkeit keinen Vorteil darstellt. Will er günstiger sein als wir, lassen wir ihn billig erscheinen. Bietet er mehr, konzentrieren wir uns auf das Wichtigste.

Füge deine eigene Kraft hinzu. Auch wir haben unsere Stärken. Sie gegen uns zu verwenden ist schwer, denn wir haben bereits gelernt, uns von ihnen frei zu machen. Haben wir also nun die Schwachstelle des Anderen gefunden, nutzen wir sie aus, indem wir unsere Mittel auf diesen Punkt konzentrieren. Auf diese Weise dienen die ersten drei Prinzipien dazu, für den Einsatz der eigenen Kraft den besten Ort und Zeitpunkt zu finden.

Die vorgestellten Prinzipien klingen martialisch und könnten als eine Essenz der Lehren des chinesischen Generals und Philosophen Sun Tzu verstanden werden. Sie sind aber keineswegs auf Auseinandersetzung gerichtet, vielmehr geht es darum, eben möglichst ohne Konflikt zum Erfolg zu kommen. Zudem, wer für den schlechtesten Fall gerüstet ist, kann gelassener und reflektierter entscheiden, was er tun will. Kung fu Coaching ist damit besonders geeignet für Strategie- und Wettbewerbssituationen.

Prof. Dr. Leif Erik Wollenweber

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