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Brigitte Herrmann

13. Februar 2018

„Es gilt, Menschen zu gewinnen, die eine IT Komplexität vorweisen“

Wir sprachen mit Brigitte Herrmann, Inhaberin der Inspirocon Potenzialberatung, über sich verändernde Anforderungen an IT-Fach- und Führungskräfte in Zeiten wachsender Komplexität der Unternehmens-IT.

Die Komplexität der IT-Systeme in Unternehmen wächst an, ändern sich damit auch die Anforderungen an Führungs- und Fachkräfte in der IT?

Ganz klar ja. Durch zunehmende Technisierung und auch aufgrund von Globalisierung, Flexibilisierung, Individualisierung etc. werden sämtliche Unternehmensprozesse und Abläufe komplexer und unsere gesamte Arbeitswelt immer stärker IT-geprägt. Damit steigen automatisch die Anforderungen an jeden Einzelnen. Die Menschen brauchen einerseits eine hohe Affinität zu diesen neuen digitalen Systemen und müssen zudem ein klares Bewusstsein für die wachsende Komplexität und die möglichen Auswirkungen in ihrem Bereich entwickeln. Dafür benötigen sie allerdings Leitplanken, wie mit dieser digitaleren und komplexeren Arbeitsrealität umzugehen ist. Nehmen wir nur die Informationsflut, der wir alle permanent über unzählige Kanäle ausgesetzt sind. Hier wird es immer wichtiger, effiziente Filtermechanismen zu entwickeln, damit wir aus den Unmengen und der Vielfalt von Informationen genau die im Prozess oder Projekt zielführenden, jeweils wichtigen und richtigen erkennen können. Und genau hier sind Führungsund Fachkräfte in der IT gefragt. Sie können sich nicht länger in ihren Fachbereich zurückziehen, sondern werden mehr und mehr als eine Art Tutor oder Dolmetscher fungieren. Ihre Aufgabe wird sein, aufzuzeigen, wie mit der wachsenden digitalen Komplexität umzugehen ist und wie sich Prozesse in diesem Kontext verbessern lassen. Bei der Suche und Einstellung neuer Beschäftigter – gerade im IT-Bereich – wird es vor diesem Hintergrund daher immer wichtiger, Menschen zu gewinnen, die zum einen eine ausgeprägte „Komplexitätskompetenz“ aufweisen. Die zum anderen aber auch die Fähigkeit und Lust mitbringen, Menschen komplexe Strukturen verständlich zu vermitteln und andere hier hindurchzuführen. Vielleicht werden künftig IT-Fachkräfte auch direkt in anderen Abteilungen wie beispielsweise dem Personalbereich sitzen und müssen dann Interesse und Verständnis für deren spezifische Themen mitbringen, damit die digitale Transformation gelingt. Und dann kommt meines Erachtens noch ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu: Je höher die Komplexität, desto wichtiger wird es für diese „digitalen Guides“, auch den Blick auf das Wesentliche nicht zu verlieren. Sonst besteht allzu leicht die Gefahr der Professionalisierung des Falschen. Wir müssen schauen, dass wir die Komplexität zu unserem Vorteil nutzen.

Sind Unternehmen auf diese Herausforderungen bereits ausreichend eingestellt?

Leider nein. Unternehmensprozesse sind ja ohnehin schon sehr viel komplexer als früher und nun kommt für viele Unternehmen noch der Druck hinzu, sich schnellstmöglich mit den Trendthemen Digitalisierung etc. auseinanderzusetzen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, um am Markt mithalten zu können. Zwar bin ich überzeugt, dass die wenigsten Unternehmen sich dem bewusst verschließen, trotzdem hab ich mehr denn je den Eindruck, dass die meisten nach wie vor mit den Anforderungen unserer sogenannten VUKA-Welt, die von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägt ist, regelrecht überfordert sind. Warum? Weil Prozesse, Strategien etc. nach wie vor an veralteten, starren Strukturen anstatt zukunftsfähig ausgerichtet sind. So wird beispielsweise bei Auswahlprozessen im IT-Bereich weiterhin auf Akademiker gesetzt, obwohl längst klar ist, dass echte „Vollblutinformatiker“ nicht in unseren Hochschulen ausgebildet werden, sondern zu einem großen Teil „selfmade“ sind. Gerade HR-Abteilungen haben es sich speziell beim Recruiting in den letzten Jahren eher gemütlich gemacht und somit einige relevante Entwicklungen, wie zum Beispiel den Wandel vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt, verschlafen oder diesen zumindest unterschätzt. Und damit sind wir beim Kernproblem der Prioritätensetzung. Denn wenn ein mittelständischer Unternehmer darüber klagt, dass er keine Fachkräfte bekommt, die Themen Employer Branding und professionell aufgestellte Personalsuche allerdings auch nicht ganz oben auf der To-do-Liste stehen, darf sich niemand wundern, wenn sich an den Strukturen nichts ändert. Genau im Finden und Gewinnen der Menschen, die die relevanten Kompetenzen, Erfahrungen und Talente haben, liegt schließlich am Ende der Erfolg, auch in Sachen Komplexitätsbewältigung. Dieser Paradigmenwechsel muss aber in ganz vielen Köpfen noch stattfinden. Und dem Umdenken sollte ein professionelles Change-Management folgen, bei dem Führungskräfte gemeinsam mit ihrem Team diese Veränderungsprozesse einleiten und umsetzen. Auch die aktuellen Ergebnisse des Hays-HR-Report 2017 belegen, dass die Befragten als wichtigste Herausforderungen beim Erwerb von Kompetenzen für die digitale Welt die Vorbereitung der Beschäftigten auf Veränderungen und die Stärkung der Eigenverantwortung der Einzelnen ansehen. Arbeitgeber wissen, dass sie mit dem Strom zunehmend digitaler und komplexer Strukturen mitschwimmen müssen oder ansonsten untergehen. Und Arbeitnehmer wissen ebenfalls, dass sie von der Digitalisierung profitieren können, und sehen die Effizienzsteigerung. Und um diese zwei – eigentlich gleichen – Ziele zu verbinden, braucht es eben die richtigen Führungs- und Fachkräfte – vor allem in der IT. Unternehmen stehen damit außerdem vor der Herausforderung, die entsprechenden Jobprofile zu verändern und dies schnellstmöglich an die Bildungssysteme weiterzugeben.

Was ist wichtiger: Persönlichkeit oder Fachwissen?

In den vergangenen Jahrzehnten wurde in der Personalauswahl und -entwicklung der Schwerpunkt ganz klar auf Fach- Kompetenzen und -Qualifikationen gelegt. Dieser Fokus war auch in meiner aktiven Zeit als Headhunter meist das erste relevante Selektionskriterium. Der Begriff Kompetenz ist interessanterweise bis heute nicht eindeutig geklärt. Gerade im universitären Umfeld gibt es nach wie vor pädagogische Studiengänge, die dieses Thema permanent umkreisen. Im Allgemeinen verstehen wir unter Kompetenz das Vorhandensein von Wissen und Fähigkeiten, um bestimmte Aufgaben lösen zu können, wie übrigens auch die Bereitschaft, dies auch zu tun. Und genau hier liegt das Dilemma. Denn was ist heutiges Wissen in einer so schnelllebigen und immer komplexeren Welt morgen noch wert? Natürlich sind Kompetenzen oftmals wichtige Voraussetzungen, um einen Job ausüben zu können. Aber rein fachliche Kompetenzen genügen bei Weitem nicht mehr. Was längst als mindestens ebenso wichtiger Faktor erkannt wurde, sind Erfahrungs- und Lebenskompetenzen – sprich die Persönlichkeit eines Menschen und dessen Potenzial. Auch deshalb, weil Fachwissen jederzeit erlernbar und ausbaubar ist, während die Persönlichkeit dagegen ein relativ stabiler Faktor ist. Menschen ändern sich nicht grundlegend. Genau deshalb ist es wichtiger denn je, dass die Persönlichkeit im Mittelpunkt steht. Die Recruitingfrage „Was muss er/sie heute können?“ wird also abgelöst durch „Was muss er/sie morgen können?“. Welches Potenzial hat der Mitarbeiter, um sowohl heute als auch morgen den Unternehmenserfolg zu unterstützen? Und welche Persönlichkeit? Der Begriff Persönlichkeit umschreibt ja die individuellen Eigenschaften eines Menschen, die ihn in seiner einzigartigen Kombination von anderen unterscheidet. Diese Persönlichkeitseigenschaften sind in der Regel zeitlich überdauernde und relativ stabile Wesens- und Verhaltensmerkmale, die einen Menschen besonders auszeichnen. Dazu gehören auch Stärken und Talente. Die aktuellen Forschungsergebnisse im Bereich der Positiven Psychologie zeigen beispielsweise auf, dass die Passung von Persönlichkeit und Job, vorwiegend die Deckung der individuellen Charakterstärken mit den Jobanforderungen erfolgsentscheidend ist. Das gilt auch für den ITBereich, selbst wenn es hier natürlich nicht ohne grundlegende Fachkenntnisse geht. Persönliche Eigenschaften wie beispielsweise Flexibilität, Urteilsvermögen, Kreativität, Ausdauer und Selbstregulation werden künftig bei der Besetzung von Fach- und Führungspositionen mehr denn je ausschlaggebend sein.

Einzelne Aufgabenbereiche werden immer spezialisierter, das Management kann gar nicht mehr im Detail wissen, wer für freie Positionen die richtige Person wäre – wie lässt sich das Wissen der Fachabteilungen systematisch einbeziehen?

Letztendlich lässt sich diese Frage ganz einfach beantworten: Indem die Menschen in den Fachabteilungen die Recruitingprozesse ganz aktiv mitgestalten. Denn das hat automatisch mehrere Vorteile. Schließlich wissen künftige Kollegen und Mitarbeiter oder direkte Vorgesetzte am besten, wen sie wirklich in ihrem Team brauchen und inwieweit sich das Tätigkeitsprofil der zu besetzenden Position mittel- und langfristig verändern wird. Daraus kann dann ein sehr praxisbezogenes Profil erstellt werden, beispielsweise welches Fachwissen ein akutes „Must-have“ oder eher perspektivisch nötig ist, welche Persönlichkeit am besten ins Team passt und mit welchem Potenzial sie den Teamerfolg positiv unterstützen kann. Entscheidend ist dabei eine enge Kooperation zwischen Recruitern und Fachbereich, denn je konkreter beide Seiten wissen und vor allem verstehen, wer wirklich gebraucht wird, desto größer ist der Recruitingerfolg. Arbeitgeber, die heute bereits in Auswahlprozessen ganz bewusst der Meinung der Mannschaft, sprich Kollegen, Mitarbeitern oder gar Azubis, Gehör schenken, haben mit dieser Vorgehensweise durchweg gute Erfahrungen gemacht. Weil sie dadurch zum einen das Know-how der Fachabteilungen und zum anderen generell das gute Gespür der Menschen und nach dem Mehr-Köpfe- Prinzip die Intelligenz der Vielen positiv nutzen. Ein solches Teamwork zu systematisieren, ist aber wiederum ganz klar Chefsache. Dafür genügt schon ein regelmäßiger Jour fixe, Hauptsache ist ein kontinuierlicher und transparenter Austausch auf Augenhöhe. Und das idealerweise durch alle Ebenen und Generationen hindurch.

Stichwort Generationen. Verschenken Unternehmen das Potenzial älterer Mitarbeiter?

Zu den hartnäckigsten Stereotypen im Personalmanagement gehört ohne Zweifel das chronische Unterschätzen älterer Mitarbeiter. Zwar hat sich im Laufe meiner Arbeit als Headhunter die Altersgrenze etwas nach hinten verschoben, dennoch werden ältere Bewerber und Mitarbeiter gerne mal aufs Abstellgleis verbannt, zugunsten des „frischen Winds“, den junge motivierte Einsteiger mitbringen sollen. Doch das ist in mehrfacher Hinsicht ein Trugschluss. Frischer Wind in Form von hoher Leistungsbereitschaft, anderen Sichtweisen und neuen Trends bei jüngeren Generationen sind natürlich wichtig für ein Unternehmen, das innovativ und zukunftsfähig aufgestellt sein will. Aber genauso wichtig ist eben auch das Know-how, der Wissensfundus, das stärker ausgeprägte Grundlagen-Verständnis und vor allem die Lebenserfahrung, die ältere Mitarbeiter zu bieten haben. Entsprechende Studien belegen sogar, dass Arbeitnehmer 50 plus stressresistenter, erfahrener und teamorientierter sind, weil sie sich nicht mehr in erster Linie auf ihre Karriere konzentrieren und stattdessen ihr wertvolles Wissen gerne an jüngere Kollegen weitergeben. Längst ist auch durch Forschungen erwiesen, dass Leistungskraft und Innovationsfähigkeit wenig mit dem biologischen Alter zu tun haben, sondern vielmehr davon abhängen, inwieweit Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung gefördert werden und somit ihr volles Potenzial entfalten können. Da die Gruppe 50 plus in ihrer Bedeutung für den Arbeitsmarkt künftig noch weiter wachsen wird, weil nicht genügend junge qualifizierte Fachkräfte nachrücken, sollte eine intelligente und zukunftsorientierte Personalpolitik diese Chancen also bewusst nutzen, anstatt sie zu verschenken. Schaffen es Unternehmen, ein generationsbergreifendes und gleichberechtigtes Miteinander zu etablieren, schaffen sie die bestmögliche Synergie aus Erfahrungswissen und „frischem Wind“ für den Unternehmenserfolg.

Was können Unternehmen generell tun, um das Potenzial ihrer Mitarbeiter besser zu nutzen?

Im Gegensatz zu bereits vorhandenen Kompetenzen bezeichnet der Potenzialbegriff ja etwas Zukünftiges, generell die Fähigkeit zur Entwicklung. Außerdem weist er auf bisher noch nicht ausgeschöpfte Ressourcen und Möglichkeiten hin. Das wahre Potenzial eines Menschen bezieht sich auf dessen individuelle Fähigkeiten und den Willen, noch fehlendes Wissen und Können zu erlernen. Die Chancen, die in diesem Weiterentwicklungspotenzial liegen, verspielen aber leider viele Unternehmen bereits beim Recruiting, weil das wahre Potenzial eines Bewerbers hier oft gar keine Rolle spielt. Dabei wird genau dieser Faktor immer wichtiger. Zu erkennen, was wirklich in einem Bewerber steckt. Wer dieses Potenzial nutzen will, kann im Rahmen einer Potenzialanalyse die positiven Eigenschaften und Interessen ermitteln und somit verstehen, was diesen Menschen besonders auszeichnet. Das kann schon mit einer ersten Stärkenanalyse und einem Stärkeninterview im Auswahlprozess beginnen. Ist es beispielsweise die „Liebe zum Lernen“, wird sich derjenige mit mehr Begeisterung und größerer Leichtigkeit neues Wissen aneignen. Und genau hierauf wird es mehr denn je ankommen, genau die Facetten eines Menschen zu erkennen, in denen er sich am besten, schnellsten und vor allem mit echter Begeisterung entwickeln will und kann. Gleichzeitig wird es immer wichtiger, auch die Lebenskompetenzen eines Menschen einzubeziehen. Also das, was ihn auch außerhalb des Berufs auszeichnet. Um dieses wertvolle Potenzial zu aktivieren, ist natürlich ein entsprechendes Umfeld wichtig, mit Projektarbeit, Möglichkeiten zum Ausprobieren, dem Fördern von Selbstverantwortung und Freiräumen zur Entfaltung. Wird von Anfang an auf eine potenzialbasierte Passung von Interessent und Job geachtet, sind die Voraussetzungen ideal, dass ein neuer Mitarbeiter sich bestmöglich einbringen und weiterentwickeln kann – zu seiner Zufriedenheit wie auch zum Erfolg des Unternehmens. Oder anders gesagt: Wenn wir Menschen so nehmen, wie sie sind und nicht, wie sie sein sollten, dann haben sie die beste Chance, zu werden, was sie sein können. Alles andere, und das erleben wir leider täglich in der Personalarbeit, wäre mal wieder Professionalisierung des Falschen.

Brigitte Herrmann

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